,,Sindelfingen positioniert sich selbstbewusst”

Ein fiktiver Brief  aus der Zukunft zum Bürger-und Kulturzentrum.

(Vollständiger Text eines in der SZ/BZ am 9.11.2023 in der SZ/BZ  erschienenen Beitrags.)

 

,,Lieber Gotthard,

du hast neulich nachgefragt, wie sich das hiesige “Bürger- und Kulturzentrum” (KuB) entwickelt hat. Das will ich mit diesem Brief beantworten. Nimm dir aber etwas Zeit und lass dich informieren über eine aufwendige Einrichtung, bei der die Stadt Sindelfingen erheblich Geld in die Hand genommen hat, um eine eindrucksvolle Präsentation des eigenen Selbstverständnisses darzubieten. Es war ja irgendwo formuliert, dass man sich als “kraftvolle Stadt” versteht, “die aus dem Erbe der Vergangenheit ihre Zukunft gestaltet”. Das sind große Ansprüche, an deren Umsetzung man durchaus intensiv gearbeitet hat.

Schon im Heranlaufen erahnt man etwas vom Erfolg dieses Projekts: Du kommst vom Marktplatz ums Eck gelaufen und stößt überrascht auf eine große Gruppe von lächelnden Leuten. Kinder kreischen vergnügt und laufen irgendwelchen imaginären Spuren auf dem Boden hinterher – herangekommen entdeckt der Besucher, worum es da geht: Auf dem Boden befindet sich eine circa 30 Zentimeter breite Glasspur, die von der hier mündenden Poststraße ausgehend ums Eck kommt und ein Stück parallel zur Mercedesstraße weiterführt. Unter diesem langen Glasweg scheint nun ein kleiner Bach lustig zu laufen; aber schnell sieht man, dass dies nicht die schmale Schwippe ist, die eigentlich genau hier im Untergrund verläuft, sondern eine perfekte elektronische Projektion – eine eigenwillige „augmented reality“ (AR), in Sindelfingen mutig eingesetzt. (Die reale Schwippe ist leider zu schmutzig, um die Stadt gestalten zu können.)

Aber die „virtuelle Schwippe“ bietet nun einiges: Da schwimmen kleine, bunte Fische im Schwarm und einzeln; ein Krebs quert den digitalen Bach; mit kleinen Figuren besetzte Papierschiffe „segeln“ nach Süden; ein kleiner Ruderer kämpft verzweifelt gegen die Strömung. In unregelmäßigen Abständen färbt sich das Wasser – was auf die ehemaligen Färbereien hinweisen soll, die einst in genau dieser Gegend an der Schwippe lagen. Ein interessanter historischer Hintergrund.

Du ahnst jetzt, woher die Begeisterung der Kinder kommt, zumal man sich auch von den AR-Technikern per e-Mail etwas wünschen kann. Hättest du da einen speziellen Wunsch, was da in deinem Namen fließen soll?

Das ist ja nun ein toller Auftakt eines Besuchs im KuB und jeder läuft gespannt in den kleinen, grünen „Schwippe-Park“ hinein, der durchquert werden muss. (Übrigens: Dass die Besucher hier mit „virtuellem Wasser“ ihren Spaß haben, ist deshalb akzeptabel, weil ja nur wenige Meter entfernt das Wasserbecken der unteren Planie zum Plantschen einlädt.)

Der Begriff “Park“ scheint für diese neue Anlage etwas zu hoch gegriffen, aber seine Bänke zwischen den subtropischen Pflanzen sind gut besetzt, was sicher auch durch mehrere offene Cafés erreicht wird. Nett sind hier zwei gestalterische Ideen: Ins Zentrum des Platzes wurde die 3-D-Nachbildung eines eindrucksvollen historischen Grenzsteins – von fast 65 Zentimeter Höhe und obeliskförmig – von der Markungsgrenze Sindelfingen-Maichingen gestellt – so werden wir wieder mit Geschichte und gleichzeitig mit Technologie konfrontiert; und außerdem finden sich im Park – an unser heiß gewordenes Klima angepasst – vier Trinkbrunnen, die abends unterschiedlich farbig leuchten und die Zentralität dieses Platzes dadurch symbolisieren, dass ihre Lage ein Quadrat bildet, das an den Himmelsrichtungen ausgerichtet ist. Wer will, bedient sich also am „südlichen Wasser“.

Solche historisch und gestalterisch interessanten Ideen finden wir hier immer wieder. So überquert man zum Beispiel beim Eintritt in das KuB, gleichzeitig der Eintritt in den „WIP-Punkt“, ein Halbrund, das aus Carrara-Marmorsteinen gepflastert ist, die beim Umbau des Marktplatzes gerettet wurden. Für diese „Zebrastreifen“ war Sindelfingen ja einst bundesweit berühmt, auch berüchtigt, und die bewusste Nutzung dieser Steine ist ein kleiner, selbstironischer Blick in die eigene Geschichte.

Beim Eintritt in den „WIP-Punkt“ öffnet sich ein eindrucksvolles Panorama. Mit dem Namen „WIP-Punkt“ formuliert die Stadt die drei Funktionen dieses Raums: Willkommen, Information und Präsentation. Diese Funktionen sind technologisch eindrucksvoll inszeniert: Du kennst ja längst die kreativen Strukturen von Augmented oder Virtual Reality. Dadurch informiert dieses Zentrum nicht nur über Sindelfinger Sehenswürdigkeiten, sondern es präsentiert sie durch das Gesamtbild so, dass es selbst zu einer Sehenswürdigkeit geworden ist, die viele Besucher anzieht – das ist ein bewusster Ansatz gewesen. Deshalb hat der Raum den Charakter einer fast magisch anmutenden Halle, die man vor noch einem Jahrzehnt als eine Art Science-Fiction-Welt erlebt hätte – heutzutage ist Sindelfingen aber im Wettbewerb mit einer Vielzahl von interessanten Beispielen in anderen Städten. Das hat man bei der Planung des Ganzen natürlich einbeziehen müssen, diesen Blick in die Zukunft.

Der WIP-Punkt bietet in mehreren Bereichen unterschiedliche Bilderwelten und Bildästhetiken an: Hier sitzen Interessierte mit Kopfhörern und Getränken hinter einer Lichthülle um einen Bildschirm, auf dem Filme laufen, deren Themen ein Sindelfinger Geschichts- und Alltagsmosaik zusammensetzen und die auch Schulen abrufen können; dort präsentiert eine große Wand einen eigenwilligen 3-D-Film über Sindelfingen, der gottseidank aber nicht den Fehler macht, ein völlig unrealistisches, überzuckertes Stadtbild zu zeigen. (Besonders eindrucksvoll dabei die Fahrten durch die Mercedes-Benz-Hallen.) Zwei Sitzreihen im Halbrund bilden auch hier einen eigenen Bereich.

Noch zwei Beispiele: An unterschiedlichen Stellen leuchten historische Sindelfinger Porträts auf und an einer Info-Säule kann man aktuelle Daten abfragen: Fahrpläne, Öffnungszeiten, Kulturveranstaltungen, Ärztelisten, einen interaktiven Stadtplan, ein Online-Telefonbuch usw. Ein Fingertipp reicht auch hier aus, um ein Ticket auf´s Handy zu laden oder eine Telefonnummer anzurufen. Die KI macht´s möglich: Mit der Eingabe einiger weniger persönlicher Daten wird den Interessenten ein ihnen klug angepasstes Besuchsprogramm entworfen und auch auf´s Handy gespielt.

Ein sehr netter Gag ist es, dass man in die Mitte des Raums eine 3-D-Kopie der Sindelfinger „Schwätzweiber“ gestellt hat. Sie stehen hier mitten im Publikum und haben also wirklich etwas miteinander zu tuscheln. Du kannst dich sicher an den historischen „Schwätzweiber-Brunnen“ am Rand der Altstadt erinnern, auf den diese Figuren natürlich hinweisen sollen. Interessant ist das Abspielen von „Schwätzweiber-Dialogen“ über die „Sindelfingen-App“ auf dem Handy. Einen weiteren historischen Aspekt bietet der Fußboden, der das Motiv eines Stadtplans von ca. 1900 zeigt. Dieser Bereich des Stadtplans zeigt genau das Stadtgebiet, in dem man sich mit dem KuB befindet, und das um 1900 gerade industriell entwickelt worden war.

Dazu passt es, dass das Café, in das man auf der nördlichen Seite des WIP-Punktes nahtlos eintreten kann, den kuriosen Namen „Libelle“ trägt. Denn so hieß eine kurzlebige Autofabrik, die einst einen Produktionssaal punktgenau dort besaß, wo sich das Café befindet: „Wir sitzen hier in der Libelle!“ Allerdings finden sich auch überall Uhren präsentiert, die natürlich an die „Suevia“-Uhrenfabrik erinnern, die einst auch genau hier lag – bevor sie an den Goldberg zog.

Ich muss nochmal schnell auf diesen „WIP-Punkt“ zurückkommen. Natürlich gibt es da eine große Theke, hinter der einerseits zwei Mitarbeiterinnen für den Verkauf von Eintrittskarten, Souvenirs, Literatur und dem Verleih von Kopfhörern und AR-Brillen und sonstige Tipps zuständig sind und ganz schön zu tun haben; und andererseits Personal, das das eigentliche Bürgerzentrum repräsentiert. Hier können nämlich Bürgerinnen und Bürger, die nicht extra „aufs Rathaus“ wollen, Auskünfte bekommen, die mit Aspekten der Stadtverwaltung zu tun haben und durch KI-generierte Antworten nicht abgedeckt werden konnten. Einige Verwaltungsakte sind in einem Büro im ersten Stock sogar direkt zu erledigen. Vor allem ist jemand von der Stadtverwaltung anwesend, der als Ansprechpartner für Nachfragen, Kritik und Vorschläge fungiert. So präsentiert sich die Stadt hier nicht nur im Bild und mit digitalen Infos, sondern auch in direkter, realer Form – eine neue Erfahrung  in Zeiten beispielloser Umbrüche…

Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hattest, aber lange Zeit waren weitere, grundlegende Teile des KuB heiß umstritten: Kein Wunder, denn sie hatten mit grundsätzlichen Fragestellungen zu tun. Soll die Stadt in dieses Projekt auch einen professionell ausgestatteten Veranstaltungssaal integrieren? Oder würde es ausreichen, dass Gruppen, Vereine und Projekte die Vielzahl von Sindelfinger Veranstaltungsräumen nutzen, die überall vorhanden sind? Eine solche Frage war wieder einmal nur zu beantworten, wenn man intensiv die Funktion des KuB für Sindelfingen und seine überregionale Rolle diskutiert – ich erwähne nur den Begriff „Leuchtturm-Funktion“.

Aber: Der Blick auf die immer schwieriger werdende Lage der Innenstadt; die Erkenntnis, dass auch eine wachsende Zahl von Großveranstaltungen immer nur sehr punktuell Publikum ins Zentrum zieht; der Druck, einer erheblich gestiegenen Zahl von in Sindelfingen arbeitenden, gut ausgebildeten und gut verdienenden Beschäftigten ein ihren Ansprüchen adäquates Stadtbild und ebensolche Stadtstruktur anbieten zu müssen; die Einsicht, die kulturellen und technischen Ansprüche der eigenen Jugend ernstnehmen zu müssen – all das hat dann ja dazu geführt, dass es eine Mehrheit im Gemeinderat für eine hochprofessionelle Veranstaltungsqualität im KuB gegeben hat, die sich dann auch als tägliche, selbstverständliche, niveauvolle Anlaufstelle entwickelt hat. Du weißt ja selbst, dass auch überregionale Zeitungen immer wieder über das berichten, was im KuB angeboten wird.

Es bleibt mir doch noch einiges zu erwähnen. Nachdem in der politischen Debatte klar geworden war, dass es eine unglückliche städtische Idee gewesen ist, die Existenzberechtigung des KuB vor allem an bescheiden ausgestattete, flexible Vereinstreffs und an zwei Übungsräume zu knüpfen – konnte sich der Blick auf Neues, Anderes, Herausforderndes richten. Und das war zum Beispiel die Idee, hier Historisches mit Technologischem am Beispiel des Bürgermeister-Gußmannschen Rokokosalons zusammenzubringen. Dass Sindelfingen mit diesem „blauen Salon“ einen kulturhistorischen Edelstein besitzt, hatte lange Jahre trotzdem nicht dazu geführt, daraus einen Diamanten zu schleifen – obwohl Sindelfingen bekanntermaßen nicht gerade gesegnet ist mit kulturgeschichtlichen Denkmälern. Also nun die Idee: Wir präsentieren den Salon – aber nicht in seiner heiklen originalen, sondern in einer virtuellen Form, und zwar mit allen Qualitäten, die modernste AR zu bieten hat: Ein lebender, erzählender, alle Sinne ergreifender Raum. So machen wir ihn bewusst zu einem Zentrum Sindelfinger Stadtgeschichte und Kultur – und von eindrucksvoller touristischer Qualität. Die Besucherzahlen zeigen das.

Inspiration fürs Kultur- und Bürgerzentrum Sindelfingen?

Eine Collage mit dem Saal des Kunstkraftwerks Leipzig

und dem Sindelfinger Gußmann- Rokokosalon

 

Sofort entstand die Idee, diese Technologie auch für andere Sujets zu nutzen, zum Beispiel während einer Biennale. Und da die Stadt leider auf eine Erweiterung des Stadtmuseums verzichtet hatte, könnte der Gußmann-Salon ergänzt werden: Mit zwei weiteren, eindrucksvollen Themensälen die Zeit präsentierend, als Sindelfingen eine eigene Oberamtsstadt gewesen war. Da bot sich erstens die große Bedeutung unseres „Storchenhauses“ an, das 350 Jahre lang als Kellerei der Universität Tübingen diente und zweitens die historische Form der Verwaltung der Stadtgrenzen durch aufwendige Kontrollgänge zu den 600 Sindelfinger Grenzsteinen. Themen, die nicht nur historisch, sondern auch gestalterisch viel hergeben. Immer sind Schülerinnen und Schüler vor Ort, denn diese sind ja die technischen Formen der von AI und KI längst gewohnt: Das notwendige Faktenlernen ist ja weitgehend von den speziell auf die jungen Leute zugeschnittenen KI-Programmen übernommen worden.

Der „Raum der Partnerschaft“ wird von den Sindelfinger Partnerstädten „bespielt“, die sich in ihrer Präsentation abwechseln und dabei immer wieder hoch interessante technische und künstlerische Formen finden. Gleich daneben wirst du das „Sindelfinger Studio“ finden und voller Anerkennung erleben: Hier treffen sich Bürgerinnen und Bürger zu Gesprächen und Diskussionen über aktuelle und zukünftige Sindelfinger Belange in einem bunten, kreativen Rahmen mit kleiner Theke, spontan durch Livemusik oder Filme ergänzt und motiviert. Eine kleine selbstgewählte Gruppe strukturiert und schlägt politische Initiativen vor, die im Namen dieses „Studios“ veröffentlicht werden. Oft kommen Gäste, die einfach interessierte Leute treffen und sich über das Leben in Sindelfingen unterhalten wollen. Zu ganz konkreten Fragen werden z.B. bekannte Städteplaner oder Architektenbüros per Video zugespielt. Beachtenswert ist auch, dass die „Macher“ des „Studios“ versuchen, Gäste zu gewinnen, die mit ihrem Migrationshintergrund spezifische Probleme einbringen können. Diese sinnvolle, weil unterhaltsame und ergebnisreiche Form der Bürgerbeteiligung lässt das „Studio“ zu einem durchaus herausfordernden Partner der Stadtverwaltung werden. Denn es ist unabdingbar, die umwälzenden neuen Technologien durch eine Vielzahl neuer sozialer Strukturen zu begleiten, um der weiteren gesellschaftlichen Vereinzelung entgegenzuwirken.

Wenn wir bei diesem Thema Bürgerbeteiligung sind: Auf dem Dach des KuB befindet sich der zentrale Sindelfinger Bürgergarten, ein wunderbarer Ort, um zu pflanzen, zu hegen und pflegen und zu produzieren. Die Feste, die da – meist zusammen mit dem „Studio“ – gefeiert werden, sind legendär und erinnern an die seit Jahrzehnten funktionierenden schwebenden Bürgergärten berühmter Städte.

Zum Schluss berichte ich von einem mutigen Projekt der Wirtschaftsförderung. Wir wissen alle, wie schwierig es für Einzelhändler in den Innenstädten geworden ist. Mit der Argumentation, dass ein wichtiger Aspekt dabei der Bezug auf die eigene Sindelfinger Geschichte ist, konnte die Wirtschaftsförderung mit dem Verzicht auf Mieteinnahmen – eine mittlerweile völlig normale Form eines Motivationsanschubs – drei ganz spezielle Ladengeschäfte mit initiieren, deren Themen zur Grundstruktur des KuB passen: ein Laden, der Malfarben und -zubehör aller Art anbietet und Kurse im Umgang mit ihnen – mit durchaus psychologischen und medizinischen Anklängen. Dazu passt die kleine Galerie der Hobbykünstlerinnen und Künstler, die hier ihren selbstverwalteten, bunten Ort gefunden haben – im dauernden Austausch mit dem Bürgergarten und dem „Studio“.

Der zweite Laden bietet alles zum Thema Seide und Seidenstoffe und schafft damit ein Feuerwerk von Farben. Oft arbeitet jemand an dem kleinen Webstuhl im hinteren Teil des Ladens – in enger Kooperation mit dem Sindelfinger Webereimuseum, ein bewusster Hinweis darauf, dass Sindelfingen einst Zentrum der württembergischen Seidenweberei war. Und so gilt es noch, den dritten Laden zu erwähnen, mit dem sich zwei junge Männer selbstständig gemacht haben: Sie bieten exklusiv kinetisches Spielzeug an, ergänzt um eine Galerie kleiner, bewegter, kinetischer Kunstwerke, durch deren typische Technik „Kunst und Bewegung“ thematisiert werden. Das passt ins Bild.

So weit mal, lieber Gotthard, der momentane Stand. Du hast gemerkt, dass sich Sindelfingen in einer sich dramatisch schnell verändernden sozialen und kulturellen Umwelt selbstbewusst positioniert hat. Natürlich sind um das KuB und sein direktes städtisches Umfeld herum auch erhebliche weitere Entwicklungen angestoßen worden – aber das ist ein anderes Thema…

Ich schicke dir herzliche Grüße – lass was von dir hören.

Dein Klaus

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